Die biomedizinische Forschung steht vor einer bedeutenden Herausforderung: Modelle zu entwickeln, die verlässlichere Ergebnisse liefern, kosteneffizienter sind und dabei auch die ethischen Bedenken in Bezug auf Tierversuche lösen. Tierversuche sind nicht nur grausam, teuer und zeitaufwändig, sondern liefern Ergebnisse, die nicht prospektiv auf den Menschen übertragbar sind.
Tierversuche sind spätestens im 21. Jahrhundert mit seinen Möglichkeiten obsolet geworden. Die Zukunft der Forschung und Medizin liegt in „Non-Animal Technologies“, kurz NAT (andere gängige Bezeichnung: NAM = „Non-Animal Methods“). Ärzte gegen Tierversuche e.V. (ÄgT) setzt sich dafür ein, diese modernen tierversuchsfreien Methoden allen relevanten Stellen (Ärzte, Universitäten, Politik, Justiz, Genehmigungsbehörden etc.) bekannt zu machen, sie zu fördern und ihnen den gebührenden Stellenwert zu verschaffen.
Weltweit boomt die tierversuchsfreie Forschung und verändert die medizinisch-wissenschaftliche Landschaft. Besonders bemerkbar macht sich dies in der Pharmabranche. In den USA, dem mit Abstand größten Anbieter von Medikamenten weltweit, können seit einer Gesetzesänderung Dezember 2022 Medikamente ohne Tierversuche zugelassen werden - ein gigantischer Meilenstein! In einer Folgenovelle 2024 wurde in den USA zudem beschlossen, die Abkehr von Tierversuchen in der Medikamentenentwicklung zu beschleunigen und die Zulassungsvorschriften entsprechend anzupassen. Dies spiegelt die Erkenntnis der amerikanischen Behörden wider, dass Tierversuche keine guten Vorhersagen über das Ansprechen von Medikamenten beim Menschen zulassen.
Nun müssen Europa und der Rest der Welt diesem Beispiel folgen. Die Europäische Kommission hat eine Initiative gestartet, um einen Fahrplan für den Übergang zu tierversuchsfreien Sicherheitsbewertungen von Chemikalien zu entwickeln. Ein guter, wenn auch natürlich nicht ausreichender Schritt. Diese sogenannte „Roadmap“ soll gesetzliche und nicht-gesetzliche Maßnahmen zur Reduzierung und letztendlichen Abschaffung von Tierversuchen umreißen und gleichzeitig die Validierung und internationale Akzeptanz tierversuchsfreier Testmethoden fördern.
Auch einige der größten Pharmaunternehmen der Welt wie Merck und Roche befürworten mittlerweile öffentlich den Ausstieg aus dem Tierversuch. Stattdessen wollen sie den Einsatz zuverlässiger, menschbasierter Forschungsmethoden für eine sicherere und effektivere Medikamentenentwicklung verstärken. Der Grund ist eine mit durchschnittlich 92% sehr hohe - und sehr teure! - Fehlerquote in der Medikamentenentwicklung, für die ineffektive Tierversuche verantwortlich gemacht werden.
Der Pharmariese Roche hat erst kürzlich das „Institute of Human Biology“ (IHB) in Basel gegründet, das sich ganz den NATs in der Medikamentenentwicklung widmet. Verschiedene Forschergruppen am IHB arbeiten daran, die Medikamentenentwicklung effektiver und effizienter zu machen. Statt Tierversuchen werden ausschließlich Forschungsmodelle verwendet, die auf menschlichen Daten basieren, wie etwa menschliche Mini-Organe oder innovative Computermodelle. Roche zufolge soll dies dazu beitragen, die Krankheitsforschung zu verbessern und die Entwicklung von Medikamenten zu beschleunigen.
Auch der riesige DAX-Pharmakonzern Merck will gänzlich weg vom Tierversuch, diese nicht nur reduzieren. Mercks Vorsitzende der Geschäftsleitung, Belén Garijo, sagte im Gespräch mit der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung im Mai 2023: „Wir wollen keine Tierversuche mehr machen. Aus eigenem Antrieb oder schier aus Neugier führen wir keinen einzigen Tierversuch durch.“ Statt Tierversuche will Merck auf moderne, tierversuchsfreie Methoden setzen, die genauere Vorhersagen über die Wirksamkeit von Medikamenten ermöglichen. Garijo erwartet, dass dieser Wandel in naher Zukunft geschehen wird. „Ich wage eine persönliche Spekulation: Es wird dabei nicht mehr um Jahrzehnte gehen, sondern nur noch um Jahre”, so die Managerin. Und Merck lässt markigen Worten Taten folgen: Der Darmstädter Pharmariese hat die Übernahme der HUB Organoids Holding B.V., einem Pionier der Organoid-Technologie, bekannt gegeben. Die Organoid-Technologie von HUB, mit der 3D-Zellkulturmodelle aus menschlichen Zellen (Haare, Haut oder Blut) gezüchtet werden, die in ihrer Funktion menschlichen Organen ähneln, hat das Potenzial, die Entwicklung von Medikamenten zu beschleunigen und das Verständnis für die Behandlung von Krankheiten zu verbessern. In einer Pressemitteilung betont der Konzern, dass diese Akquisition sein Portfolio im Bereich der Biologie der nächsten Generation stärkt und es Forschern ermöglicht, wichtige Erkenntnisse über biologische Systeme ohne langwierige Tierversuche zu gewinnen. Das ist ein weiteres unmissverständliches Signal für einen Paradigmenwechsel bei Merck!
„NATworks“ steht sinnbildlich für die oben ausgerufene, sich wie beschrieben bereits abzeichnende tierversuchsfreie Zukunft und bildet einen Rahmen. Im Juli 2020 veröffentlichte ÄgT die weltweit erste NAT-Datenbank, um damit eine zentrale, für jedermann sehr leicht nutzbare Informationsquelle zu bieten. Eigentlich wäre dies Aufgabe der Politik oder der Wissenschaft gewesen; vermutlich deshalb hat die NAT-Datenbank dank ihrer Einzigartigkeit mittlerweile mehrere Auszeichnungen erhalten. Die NAT-Datenbank ist an hunderten von Universitäten gelistet und wird auch andernorts rege genutzt.
Doch NATworks bedeutet noch viel mehr, bietet große Chancen für eine bessere Zukunft. Das Netzwerk in der NAT-Welt wird immer größer und dichter, durch Kooperationen ergeben sich neue Möglichkeiten. Jedes Jahr findet in großen Städten auf der ganzen Welt ein Weltgipfel über „mikrophysiologische Systeme“ (MPS), so der übergreifende Fachbegriff für Mini-Organe, Multi-Organ-Chips etc., statt; im Jahr 2025 in Brüssel. Sogar eine internationale und hochkarätig besetzte MPS-Gesellschaft existiert bereits; sie hat sich das Ziel gesetzt, „Forscher, Regulierungsbehörden, Finanzierungsstellen und Hochschulen zusammenzubringen, um so die Entwicklung und Einführung dieser aufregenden neuen Technologien zu beschleunigen, die positive Auswirkungen auf die gesamte Menschheit haben wird“.
An all diesen wunderbaren Entwicklungen auf der ganzen Welt ist ÄgT beteiligt. Deshalb ist es der Stiftung Zukunft jetzt! und ihrer Gründerin so wichtig, dieses Engagement zu unterstützen; dies wurde in der Vergangenheit bereits zahlreich getan und soll fortgesetzt werden.
Am 13. November 2024 fand das erste NATworks-Webinar statt, in dem sich 8 Firmen vorstellten, die mit modernsten Technologien und innovativer Forschung dazu beitragen, Tierversuche zu ersetzen. Die zweisprachige Zoom-Veranstaltung war mit über 220 internationalen Teilnehmern sehr gut besucht und ist die logische Fortführung der ÄgT-Kongresse „Wissenschaft statt Tierversuche“ in den Jahren 2016 und 2018. Das Webinar war in vielerlei Hinsicht sehr erfolgreich, zeigte gerade auch jungen Wissenschaftlern berufliche Perspektiven auf und wird deshalb wiederholt. Es wurde eindrucksvoll verdeutlicht, wie zukunftsweisende Technologien die Forschung nachhaltig verändern können: Sie ersetzen nicht nur Tierversuche, sondern bieten durch präzisere und kosteneffizientere Methoden großes Potenzial für die Medizin und Pharmaindustrie. Besonders beeindruckend war die Vielfalt der vorgestellten Ansätze, die von automatisierten Laborrobotern über digitale Zwillinge bis hin zu komplexen Multi-Organ-Chip-Systemen reichten.
Alle Vorträge können als Video angesehen werden.
ÄgT vergibt zudem alle 2 Jahre den mit 20.000 Euro dotierten „Herbert-Stiller-Preis“, benannt nach dem Gründervater des Vereins, für besonders vielversprechende Forschungsprojekte ohne Tierversuche. Im Jahr 2023 wurde u.a. Prof. Dr. Peter Loskill von der Universität Tübingen ausgezeichnet, einer Koryphäe auf dem Gebiet der Multi-Organ-Chips. Damals überzeugte er mit seinem „Brustkrebs-auf-dem-Chip“-Modell, doch die Bemühungen seines Teams weiten sich mittlerweile unter dem Namen „ImmuneMPS“ auf das gesamte Immunsystem aus; dazu haben sie ein kurzweiliges Video gedreht.
ÄgT wird „NATworks“ weiterentwickeln; dazu gibt es viele Ideen und Ansätze, die derzeit intensiv diskutiert werden. Wir werden an dieser Stelle weiter darüber berichten.
Durch die Einführung humanrelevanter Methoden wie Organoide, Multi-Organ-Chips, künstliche Intelligenz etc. bewegt sich die pharmazeutische Industrie in Richtung präziserer, günstigerer, ethischer und effektiverer Forschungsstrategien. Da neben den Pharmaunternehmen auch die Aufsichtsbehörden in den USA und der EU zunehmend die Grenzen von Tierversuchen und die Vorteile tierversuchsfreier Methoden anerkennen, steht der pharmazeutischen Landschaft eine neue Ära der Medikamentenentwicklung bevor.
Diese Entwicklung verspricht nicht nur die medizinische Innovation zu beschleunigen, sondern adressiert auch langjährige ethische Bedenken bezüglich der Tierversuche. Es ist zu hoffen, dass andere Forschungsbereiche, insbesondere auch die Grundlagenforschung, die immer noch in hohem Maße (mehr als die Hälfte aller offiziell gemeldeten) veraltete Tierversuche einsetzt, sich an dem positiven Beispiel der Pharmaindustrie orientieren werden.