Mit kultiviertem Fleisch lassen sich einige der drängendsten Herausforderungen im Klima-, Umwelt-, Gesundheits- und Tierschutz angehen. Doch diese nachhaltige Form der Fleischherstellung steht noch am Anfang ihrer Entwicklung, und es braucht weitere Fortschritte, um ihr Potenzial zu heben.
Laut Studien der Universität Oxford ist es nicht möglich, die Pariser Klimaschutzziele zu erreichen, ohne unser Ernährungssystems grundlegend zu transformieren und von der industriellen Tierhaltung abzurücken. Für die meisten Menschen sind jedoch Geschmack und Preis die ausschlaggebenden Kriterien, wenn sie sich für Lebensmittel entscheiden, nicht wie nachhaltig diese sind.
Die weltweite Nachfrage nach Fleisch wird sich laut Prognosen bis 2050 fast verdoppeln, dabei ist die Tierhaltung schon heute für 20 Prozent der weltweiten Treibhausgasemissionen verantwortlich. Neue Innovationen haben das Potenzial, die Nachfrage nach Fleisch mit einem Bruchteil der Ressourcen zu decken — indem wir Fleisch auf pflanzlicher Basis oder direkt aus tierischen Zellen herstellen.
Damit lässt sich das globale Ernährungssystem nachhaltiger, sicherer und gerechter gestalten, ohne dass wir uns darauf verlassen müssen, dass große Teile der Bevölkerung in kurzer Zeit ihre Ernährungsgewohnheiten grundlegend ändern. Diese Lebensmittel machen es den Menschen möglich, an liebgewonnenen Mahlzeiten festzuhalten, ohne zu einigen der größten Klima- und Umweltprobleme beizutragen.
Während pflanzliche Optionen bereits etabliert sind und vier von zehn Deutschen mindestens einmal pro Monat zu pflanzenbasiertem Fleisch greifen, ist kultiviertes Fleisch in Europa noch nicht erhältlich. Kultiviertes Fleisch ist identisch mit dem Fleisch, das wir heute essen. Es wird jedoch nicht durch das Halten von Tieren hergestellt, sondern durch das Vermehren von Zellen in Fermentern, ähnlich wie beim Bierbrauen.
Die Kultivierung von Fleisch ist vergleichbar mit der Anzucht von Pflanzen aus Stecklingen in einem Gewächshaus, das die Wärme, den fruchtbaren Boden, das Wasser und die Nährstoffe bietet, die Pflanzen benötigen. Dabei wird eine kleine Probe von Zellen eines Tieres entnommen und in einem Fermenter vermehrt. Der Fermenter liefert ihnen das Wasser, die Nährstoffe und die Wärme, die sie für ihr Wachstum benötigen. Sobald die Zellen zu einer ausreichend großen Menge Fleisch herangewachsen sind, werden sie aus dem Fermenter entnommen und können zu einer schmackhaften Mahlzeit zubereitet werden.
Der erste kultivierte Rindfleisch-Burger wurde vor genau zehn Jahren — im August 2013 — in London der Weltöffentlichkeit vorgestellt. Zu diesem Zeitpunkt gab es noch kein einziges Startup, das in diesem Bereich tätig war, geschweige denn etablierte Lebensmittelunternehmen. Seitdem haben visionäre Unternehmen und Forschende große Fortschritte dabei gemacht, kultiviertes Fleisch schmackhaft und erschwinglich zu machen. Heute arbeiten weltweit rund 150 Startups in dem Bereich sowie zahlreiche Unternehmen aus der etablierten Lebensmittelwirtschaft und aus der Industrie. Doch bis wir kultiviertes Fleisch in einem deutschen Supermarkt kaufen können, wird es noch weitere Fortschritte auf Seiten von Forschung, Wirtschaft und Politik brauchen.
Kultiviertes Fleisch ist noch in einem frühen Entwicklungsstadium, doch es hat das Potenzial für enorme Fortschritte beim Klima-, Umwelt-, Gesundheits- und Tierschutz. So zeigt die bislang einzige Lebenszyklusanalyse, die auf empirischen Daten beruht, dass kultiviertes Fleisch deutlich geringere Umweltauswirkungen als Fleisch aus der Tierhaltung haben dürfte.
Wenn bei der Herstellung Erneuerbare Energien zum Einsatz kommen, könnte kultiviertes Fleisch bis zu 92 Prozent weniger Treibhausgase verursachen sowie einen bis zu 90 Prozent niedrigeren Flächenbedarf haben — Flächen, die wir dringend benötigen für die Renaturierung, für nachhaltige Formen der Landwirtschaft und für den Ausbau von Wind- und Sonnenenergie.
Gleichzeitig gehen wir mit kultiviertem Fleisch einige der größten Bedrohungen für die öffentliche Gesundheit an — die zunehmende Antibiotikaresistenz, lebensmittelbedingte Krankheiten sowie neue Pandemien aus dem Tierreich. Da kultiviertes Fleisch in einer sauberen Umgebung hergestellt wird, entfallen die gesundheitlichen Risiken aus multiresistenten Keimen, aus Bakterien wie Salmonellen und E-Coli sowie aus Tierkrankheiten wie der Vogelgrippe.
Auf dem Weg zu einem nachhaltigen Ernährungssystem mit weniger Tierhaltung sind pflanzenbasiertes Fleisch und kultiviertes Fleisch komplementäre Lösungsansätze, die jeweils unterschiedliche Menschen ansprechen und zum Teil auch ineinandergreifen. Zum Beispiel arbeiten einige Unternehmen daran, kultiviertes Fett zu entwickeln, das pflanzlichem Fleisch authentischen Geschmack und Textur verleihen kann.
Die primäre Zielgruppe von kultiviertem Fleisch sind nicht Menschen, die vegetarisch oder vegan leben, sondern gänzlich neue Gruppen von Menschen, die weiter Fleisch essen wollen und sich nicht hinreichend von pflanzlichen Optionen angesprochen fühlen. Repräsentative Umfragen zeigen, dass dies ein realistisches Ziel ist, da sich auch solche Menschen offen gegenüber kultiviertem Fleisch zeigen, die wenig Interesse an pflanzenbasiertem Fleisch zeigen.
Als 2013 der erste Rindfleisch-Burger in London verkostet wurde, war noch kein einziges Unternehmen dieser Welt in dem Geschäft tätig. Seitdem haben weltweit visionäre Menschen in Wirtschaft und Wissenschaft große Fortschritte gemacht: Während die Herstellung eines einzelnen kultivierten Burgers 2013 zwei Jahre gedauert hat und 250.000 Euro gekostet hat, geben heute einige Hersteller an, dass sie hierfür nur noch wenige Tage brauchen.
In Singapur — dem bis vor kurzem einzigen Land, in dem kultiviertes Fleisch schon zugelassen war — ist ein kultivierter Hähnchenspieß heute für rund 14 US-Dollar erhältlich. Im Juni 2023 folgte die USA und ließ als zweites Land der Welt den Verkauf von kultiviertem Fleisch zu. Wenige Wochen später wurden nun auch erste Zulassungsanträge in Europa gestellt, zunächst allerdings nicht für die Länder der Europäischen Union, sondern für die Schweiz und für Großbritannien. Das Unternehmen Aleph Farms aus Israel hat in beiden Ländern die Zulassung von kultiviertem Rindfleisch beantragt.
Doch diese beeindruckende Entwicklung sollte nicht darüber hinwegtäuschen, dass kultiviertes Fleisch noch am Anfang steht und dass es weiterer Fortschritte bedarf, bis es für alle Menschen erschwinglich und zugänglich ist. Denn damit kultiviertes Fleisch zu einer tatsächlichen Option für die Menschen wird, muss es beim Geschmack und beim Preis auf Augenhöhe mit den tierischen Varianten kommen. Hier setzt die Arbeit des Good Food Institute an.
Das Good Food Institute ist eine internationale Nichtregierungsorganisation, die gemeinsam mit Partnern daran arbeitet, pflanzenbasierte Lebensmittel und kultiviertes Fleisch schmackhaft, günstig und überall verfügbar zu machen. Weltweit sind mehr als 180 Menschen in unserem Netzwerk von sechs unabhängigen Organisationen tätig — beim Good Food Institute Europe arbeiten rund 25 Teammitglieder aus sieben europäischen Ländern.
Wir arbeiten mit der Wissenschaft zusammen, um Open-Access-Forschung zu pflanzlichen und kultivierten Lebensmitteln zu fördern und um mehr Forschende für diesen Bereich zu begeistern. Wir unterstützen die etablierte Lebensmittelwirtschaft bei der Erweiterung ihres Geschäfts um pflanzliche und kultivierte Produkte. Und wir beraten die Politik dabei, wie sie faire Rahmenbedingungen für diese nachhaltigen Optionen schaffen kann.
Insbesondere auf Seite der Politik ist der Handlungsbedarf groß. Damit dieses nachhaltig erzeugte Fleisch in Deutschland und Europa für alle verfügbar wird, sollten Bund und Länder in Forschung und Entwicklung sowie in die Infrastruktur investieren, die es braucht, um die Produktion auszuweiten und die Produktionskosten zu reduzieren — so wie sie es zuvor bei Erneuerbaren Energien und bei der Elektromobilität getan hat.
>> Der Spiegel – Mit der Kraft der Pampe
>> Report zu pflanzenbasiertem und kultiviertem Fleisch in Deutschland
>> Wissenswertes zum Thema kultiviertes Fleisch
>> Präsentation von Bruce bei EAGxLondon, (Bruce Friedrich, Mitbegründer und Geschäftsführer vom good food institute)
Video: CellAg Deutschland