Wir stehen an der Schwelle zu einer Revolution in der Lebensmittelproduktion. So sehen es zumindest die weltweit boomenden Start-ups in der Food-Tech-Branche, die Entwicklungsabteilungen großer internationaler Food-Konzerne wie Mars, Nestlé und Unilever, zahlreiche engagierte WissenschafterInnen an der Schnittstelle von Lebensmittel-, Agrar- und Klimatechnik sowie auch Lobby-Organisationen wie ProVeg oder das Good Food Institute.
Ihre Mission Statements lauten: So wie wir die Art und Weise der Energieerzeugung ändern müssen, müssen wir auch die Art und Weise der Lebensmittelproduktion ändern. Das Schlagwort dazu: Die Proteinwende.
Ich spreche allerdings lieber von einer „kopernikanischen Wende“ in unserer Esskultur. Warum? Die Proteinwende fokussiert auf weniger Eiweiß tierischen Ursprungs in unserer Ernährung mithilfe technologischer Innovationen. Mit einer „kopernikanischen Wende“ ist mehr gemeint. Sie umfasst auch einen kulturellen Wandel, der nicht nur unsere Lebensmittelproduktion, sondern auch unsere Lebensmittelkonsumtion und damit die Esskultur als ganze verändert.
Wenn wir über Ernährung sprechen, betrachten wir Lebensmittel und Speisen durch eine naturwissenschaftlich und lebensmitteltechnologische, auf Nähstoffe fokussierte Brille. Wenn wir über Essen sprechen, betrachten wir sie durch eine kulturelle, auf unsere Lebenswelt, unseren Alltag gerichtete Brille. Dort spielen in erster Linie Nährwerte und Mineralstoffe eine Rolle, hier Geschmack und Genuss.
Aus lebensmitteltechnologischen Sicht haben wir vor allem „alternative Proteine“ im Blick: Im Labor entwickelte Fleischersatzstoffe, in Bioreaktoren kultiviertes Fleisch, Fermentationsprodukte, essbare Insekten und Algen. Aus kultureller und lebensweltlicher Sicht blicken wir mehr auf die kulinarischen Potenziale von Gemüse, Obst, Hülsenfrüchten, Getreide, Nüssen, Pilzen und Samen.
Im Hinblick auf die persönliche Gesundheit sowie auf die Reduktion von klimaschädlichen Treibhausgasen, also die planetarische Gesundheit, braucht es aber beides.
Ein zu hoher Konsum tierischer Nahrungsmittel hat nachweisbar negative gesundheitliche Folgen, denen die medizinische und ernährungswissenschaftliche Forschung seit den 1950er-Jahren auf der Spur ist. Bis heute haben diese Erkenntnisse jedoch nur wenig Einfluss auf die durchschnittliche Menge der verspeisten Fleisch- und Wurstwaren. Vielmehr behielt das Narrativ der proteinreichen Supernahrungsmittel, das unsere Geschmacksvorlieben erheblich prägte, weitgehend die Oberhand gegenüber dem der zunehmenden Zivilisationskrankheiten, die durch übermäßigen Fleischkonsum mitverursacht werden.
Ökologische, tierethische und klimarelevante Diskurse sind es nun aber, die dazu führen, dass sich der Blick auf unsere Welt, auf die Natur und unsere Rolle in ihr verändert. Für die Wahrnehmung von Fleisch- und Milchprodukten hat das spürbare Folgen. Deren Massenproduktion wird zunehmend problematisiert und bekommt zugleich durch neue tierfreundliche und ökologische Haltungsformen sowie biotechnologische Verfahren immer stärkere Konkurrenz.
Zu einem Mainstream-Thema aber wurde die Problematik der Fleisch- und Milchproduktion und des hohen Konsums tierischer Lebensmittel erst durch die Klimakrise. Mit diesem politischen Schlagwort wird seit den 2010-er Jahren das Zusammenspiel aus menschengemachter globaler Erwärmung und deren vielschichtigen ökologischen, politischen und gesellschaftlichen Folgen beschrieben.
Die Klimakrise also gab aus meiner Sicht den entscheidenden Anstoß für die „kopernikanischen Wende“, in deren Zuge Fleisch nicht mehr unhinterfragt als Zentralgestirn unserer Esskultur betrachtet wird, um das pflanzliche Beilagen ihre Bahnen ziehen. Wie zu Zeiten Kopernikus’, dessen Erkenntnis, dass die Erde sich um die Sonne dreht, unser Weltbild erschütterte und den Übergang vom Mittelalter in die Neuzeit einleitete, so leitet das wachsende Bewusstsein über die gesundheitlichen, ethischen und klimatischen Kollateralschäden des viel zu hohen Konsums von Fleisch- und Milchprodukten den Übergang von eine fleischzentrierten zu einer pflanzlich geprägten Esskultur ein. In ihr werden pflanzliche Lebensmittel die neuen, sensorisch überzeugenden Stars auf unseren Tellern, auch wenn dies Sichtwiese noch nicht von allen geteilt und gutgeheißen wird.
Lebensmittelindustrie, Gastronomie sowie Klima- und Gesundheitspolitik reagieren mit unterschiedlichen Zugängen und Lösungsansätzen auf die esskulturellen Herausforderungen, die dieser Übergang mit sich bringt. Dabei lassen sich drei zentrale Hebel bzw. Stoßrichtungen zum nachhaltigen Wandel festmachen (siehe Grafik):
Die Lebensmittelindustrie arbeitet auf sensorischer Ebene auf eine Umkehrung der tierischen Veredelungswirtschaft hin. Statt - wie wir es mit der Viehzucht machen - pflanzliche in tierische Kalorien zu verwandeln, versucht sie den tierischen Geschmack in pflanzlichen Produkten zu simulieren. Mit Fleisch- und Milchersatzprodukten, den sogenannten Plant-based Foods (siehe Grafik: „Der Wandel der Veredelungswirtschaft“). Dazu kommen in Zukunft Cultured Meat and Fish sowie neue, durch Präzisionsfermentation erzeugte Lebensmittel.
Weltweit weist der Markt an Produktentwicklungen, die ohne Milch, Fleisch oder Eier auskommen, ein kontinuierliches, wenn auch zuletzt flacheres Wachstum auf. Im Handel finden sich derzeit vor allem pflanzliche Ersatzprodukte. Aber auch Produkte aus Mykoproteinen, Mikroalgen, Makroalgen, Pilzen, Insekten oder Seetang sind vereinzelt schon in Supermärkten zu finden. In Singapur wurde Ende 2020 erstmals Hühnerfleisch aus der In-vitro-Produktion zugelassen. In den USA laufen die Zulassungsverfahren, und die aktuelle Regierung in Israel hat die Produktion und Vermarktung von In-vitro-Fleisch und -Fisch zu einem prioritären nationalen Ziel erklärt.
Mikrobielle, durch Präzisionsfermentation und/oder mithilfe gentechnischer Verfahren erzeugte Proteine befinden sich indes noch in der Entwicklungsphase. Sie sind derzeit in Europa nur in Form von Backhefe oder als Joghurtkulturen auf dem Markt, während es in USA bereits einige Lebensmittel, etwa Speiseeis, aus mikrobieller Produktion gibt.
Den zweiten Hebel - die Plant-based Cuisine - bedient in erster Linie die Gastronomie, zunächst vor allem seitens der Köchinnen und Köche in der Sterne- und Hauben-Liga, die vegetarische und vegane Gerichte auf einem kulinarisch überzeugenden Niveau aus frischen pflanzlichen Ausgangsprodukten kreieren.
Was bei pflanzlich orientierten Gourmet-Restaurants heute auf den Teller kommt, hat so gut wie nichts mit Fleischersatzprodukten zu tun, wie sie von der Lebensmittelindustrie und manchen veganen Start-up-Produzenten gehypt werden. Den Spitzenköchen wie Paul Ivic ́ vom Wiener Tian, Alexis Gauthier vom Londoner Gauthier Soho oder Tobias Buholzer im schweizerischen Rüschlikon geht es nicht darum, mit ihren Gerichten den Geschmack von Fleisch zu imitieren. Vielmehr kreieren sie aus Gemüse, Obst, Getreiden, Hülsenfrüchten und Kräutern originäre Speisen, bei deren Genuss niemand das Tierische vermisst.
Nicht nur in vegetarischen und veganen, sondern auch in vielen klassischen Restaurants und als Take-away-Speisen machen Gemüse- und Getreidegerichte kulinarisch eine immer bessere Figur. Denn Gaststätten und Restaurants, die neben ihren Fleisch- oder Fischgerichten keine wirklich überzeugenden pflanzlichen Menüs anbieten, werden es in Zukunft immer schwerer haben. Gäste achten bei der Restaurantwahl zunehmend darauf, dass auch ihre vegetarischen Partnerinnen, Freunde oder Kinder auf ihre Kosten kommen.
Ernährung nach Maßgabe wissenschaftlicher Empfehlungen wie sie von Gesundheits-, Umwelt- und Ernährungsorganisationen, von der WHO über die EAT-Lancet Commission (eine globale wissenschaftliche Initiative, die Ziele für gesunde Ernährung und nachhaltige Lebensmittelproduktion definiert) bis zur DGE (Deutsche Gesellschaft für Ernährung) formuliert werden, ist der dritte Hebel, den vor allem klima- und gesundheitspolitische Strategien in Bewegung setzen und der am wirksamsten in der Betriebs- und Campusgastronomie zum Tragen kommt, wo diese Empfehlungen mit präzisem Beschaffungsmanagement und standardisierten Menüs am leichtesten umzusetzen sind.
Hanni Rützler ist eine der führenden Foodtrend-ForscherInnen Europas. Sie ist dafür bekannt, den Wandel unserer Esskultur umfassend wahrzunehmen, aber auch unscheinbare Veränderungen zu registrieren und richtig einzuordnen. Als ausgebildete Ernährungswissenschafterin und Gesundheitspsychologin bewegt sie sich professionell zwischen den Disziplinen und kann ihre Erkenntnisse für die unterschiedlichen Food&Beverage-Branchen auf überraschende Weise fruchtbar machen. In ihren Studien zur Zukunft der Ernährung sowie ihrem jährlich erscheinenden Foodreport spürt sie dem Wandel der Konsumkultur nach und versteht nachhaltige Foodtrends von kurzfristigen Moden und Medien-Hypes zu unterscheiden.